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AutorenbildOliver Dierssen

Offener Brief zum Schutz von Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen vor psychischer Erkrankung


An die Betroffenen und ihre Familien An Lehrkräfte und Schulträger An ärztliche Kolleginnen und Kollegen An politische Entscheidungsträger

Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Teilleistungsstörungen wie Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) und/oder Dyskalkulie (Rechenstörung) erfüllt viele Fachleute mit großer Sorge - und Betroffene und ihre Familien mit großem Kummer. Gegenwärtig erhalten nur jene Betroffenen angemessene Fördermaßnahmen sowie Schutz vor Benachteiligung, die Symptome einer schweren psychischen Belastung zeigen (z.B. Angststörungen, Depressionen). Viele betroffene Kinder und Jugendliche werden daher so lange in der Schule überfordert, ohne Unterstützung oder lerntherapeutische Hilfe zu erhalten, bis sie selbst psychische Symptome entwickeln und zu psychiatrischen Patienten werden.


Alle Menschen mit Legasthenie, insbesondere Kinder und Jugendliche, sollten vor Benachteiligung geschützt werden und eine Förderung erhalten, die ihnen eine faire Chance auf einen Schulabschluss gibt, der ihrer Begabung entspricht. Die “Psychiatrisierung” von Kindern und Jugendlichen mit Teilleistungsstörungen ist nicht länger hinzunehmen.



Legasthenie als Ursache psychischer Erkrankungen


Eine häufige, sehr regelmäßig auftretende Folge von Teilleistungsstörungen wie Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) oder Dyskalkulie (Rechenstörung) sind seelische Folgeerkrankungen: Angststörungen, depressive Erkrankungen, psychosomatische Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen, schulbezogene Störungen wie soziale Verhaltensstörungen oder soziale Phobien. Es gibt eine breite wissenschaftliche Evidenz dafür, dass die Ursache hierfür nicht die Legasthenie oder die Dyskalkulie als solche sind. Sondern: negative Schul- und Lernerfahrungen. 


Eine aktuelle niederländische Studie (1) aus dem Jahr 2020 zeigt, dass Kinder mit Legasthenie sich ihren Lehrkräften weniger nah fühlen. Sie erleben die Beziehung zu Lehrerinnen und Lehrern als schlechter und weniger haltgebend. Umgekehrt beschreiben die befragten Lehrkräfte die betroffenen Kinder als schwieriger zu unterrichten und weniger leistungsstark. Es gibt zahlreiche Untersuchungen der letzten Jahrzehnte, die aufzeigen, dass insbesondere jüngere Kinder sich durch Gleichaltrige häufig gemobbt, gehänselt oder ausgeschlossen fühlen. Das hat häufig dramatische Folgen. 


Kindern und Jugendlichen mit Legasthenie und Dyskalkulie scheinen nicht gut in unser Schulsystem zu passen. Das Schulsystem trägt zwar die Inklusion im Titel, gerät aber häufig schon unter Druck, wenn Kinder während der Schulstunde auf die Toilette müssen und nicht in der Pause, wie es vorgeschrieben ist. Man könnte sagen: Wir haben eine Passungsstörung zwischen den Kindern, den nicht neurotypischen, den nicht standardisierten Kindern auf der einen Seite und dem starren Schulsystem auf der anderen Seite. Aus dieser Passungsstörung entstehen für betroffene Kinder und Jugendliche, für betroffene Familie Leid - und oft manifeste psychische Störungen. 


Psychische Erkrankung ist derzeit die Voraussetzung für Förderung und Schutz der Betroffenen


Schulische Überforderung führt zu psychischer Belastung, dies ist bekannt und wissenschaftlich belegt. Allerdings besteht auch der umgekehrte Zusammenhang: Die psychische Belastung ist inzwischen häufig überhaupt der Schlüssel, dass diese Kinder irgendeine Form von Behandlung und Entlastung erfahren dürfen. Die psychische Belastung ist die Zugangsvoraussetzung für beinahe jede Form von Hilfe, die die Betroffenen dringend benötigen. Man könnte auch sagen: Kinder müssen psychisch hochbelastet sein, damit überhaupt irgendetwas passiert. 


Kinder, die psychisch gesund sind, fröhlich und motiviert, die sich durch ihre Lernschwierigkeiten nicht entmutigen lassen, die gern in die Schule gehen, die ihre Hobbies pflegen, die gut in den Freundeskreis gut integriert sind, die keine Bauchschmerzen vor der Klassenarbeit bekommen - die bekommen in zahlreichen Städten und Regionen Deutschlands überhaupt keine Förderung. 


Die Legasthenie- und Dyskalkulie-Förderung ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenkassen. Sie erfolgt vielmehr nach §35 SGB VIII als “Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit seelischer Behinderung oder drohender seelischer Behinderung.” Die Voraussetzung für die Förderung ist also letztlich eine schwere Beschädigung der kindlichen Seele, der psychischen Struktur der Seele. Kinder, deren Psyche noch nicht in dieser schwerwiegenden Form angegriffen wurde, erhalten keine Förderung und in vielen Fällen auch keinen Schutz vor schulischer Überforderung. 


Lernstörungen in der Schule erhöhen das Risiko für Suizidversuche


Dass Kinder ohne schwere psychiatrische Erkrankung keine Legasthenie-Förderung bekommen, ist aus meiner Sicht absurd - und auch brandgefährlich. Eine große kanadische Studie (2) hat 2017 das Suizidrisiko von Menschen mit spezifischen Lernstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie untersucht. Das Risiko für einen Suizidversuch lag in der Allgemeinbevölkerung bei 2,1% für Männer und 3,3% für Frauen. Das Risiko lag für Männer mit Lernstörungen bei 7,7%, also mehr als dreimal so hoch. Bei Frauen mit spezifischen Lernstörungen zeigte sich das Risiko eines Suizidversuchs um etwa das achtfache erhöht. Es lag bei 16%.


Der Psychiater Manfred Lütz hat vor einigen Jahren ein etwas umstrittenes Buch geschrieben: “Irre - wir behandeln die Falschen”. Es handelt davon, wie Menschen zum Beispiel in Lebenskrisen zu Psychiatrie- und Psychotherapiepatienten gemacht werden. Im Fall von Kindern mit Legasthenie und Dyskalkulie muss man nüchtern feststellen: Manfred Lütz hat Recht. Eine ganze Generation von Kindern wird durch die nicht ausreichende Förderung in den Schulen psychiatrisiert. Mehr noch: Das System ist auf diese Psychiatrisierung gebaut. Kinder, die noch nicht psychiatrisiert wurden, also noch eine psychiatrischen Diagnosen in ihrem Krankenkassen-Lebenslauf haben, erhalten - nichts. 


Die Folgen der Psychiatrisierung von Kindern und Jugendlichen


Wer einmal im System der Psychiatrie und Psychotherapie drin ist, kommt gar nicht so leicht wieder heraus. Zum Beispiel liegt das daran, dass psychische Folgeerkrankungen wie zum Beispiel Soziale Phobien das schulische Problem erst einmal vergrößern. In der zweiten Klasse hatte das Kind vielleicht nur Probleme im schriftlichen Bereich. In der fünften Klasse liegen plötzlich mindestens ebenso große Probleme im Mündlichen vor. Eine verhauene Klassenarbeit durch Melden oder Referate auszugleichen ist plötzlich nicht mehr möglich. 


Eine depressive Erkrankung als Folge einer Dyskalkulie erschwert die Konzentration noch weiter. Die damit verbundenen massiven Schlafstörungen machen den Schulbesuch schwierig. Der depressive soziale Rückzug führt zum Wegfall von Hobbies und Ressourcen, die nichts mit dem Schulbesuch zu tun haben. Schnell sind damit die Lebensbereiche verschattet, an denen das schulgeplagte Kind noch Freude hatte. 

Noch düsterer sieht es aus, wenn wir an die Langzeitfolgen der psychischen Erkrankungen denken: Menschen mit Teilleistungsstörungen haben auch später im Leben ein deutlich erhöhtes Risiko für Angststörungen und Depressionen bis hin zu suizidalen Handlungen


Es ist allgemein bekannt, dass gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen große Schwierigkeiten haben, erfolgreich eine Berufsunfähigkeitsversicherung abzuschließen, bei denen nicht selten zehn Jahre in die Vergangenheit gefragt wird. Mehr noch: Wer einmal bei einer solchen Versicherung abgelehnt wird, wird oft in einer Risikokartei eingetragen, der Schufa für die Seele. Ein solcher Karteieintrag macht es fast unmöglich, bei einer anderen Versicherung ein Angebot zu bekommen. 


Leider sind gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen aber ganz besonders auf den Schutz dieser Versicherungen angewiesen. Nehmen wir doch kurz optimistischerweise an, dass mit Austritt aus der Schule mit 17, 18, 19 die psychische Belastung abnimmt - bis die geforderten zehn Jahre verstrichen sind, ist aus einer ängstlichen Zweitklässerin eine Frau mitten in ihrer Familienplanung geworden. Längst sind andere Gesundheitsstörungen hinzugekommen, Asthma vielleicht oder Gelenkprobleme, die einem Versicherungsabschluss neue Steine in den Weg legen. 


Was ist zu tun?


Was ist zu tun in einem System, das nicht nur die psychische Erkrankung von Kindern billigend in Kauf nimmt, sondern sie letztlich fördert? Ein System, das schweres psychisches Leid und die seelische Erkrankung von Kindern und Jugendlichen zur Grundvoraussetzung für jede Form von Hilfe macht?


Hierzu möchte ich eine kleine Anekdote erzählen. Vor etwa einem Jahr telefonierte ich mit einer Journalistin eines großen Nachrichtenportals. Sie lebt mit ihrer Familie in Washington D.C. Die Kinder gehen auf eine öffentliche Schule. Den Umgang mit Legasthenie kennt sie noch von einer deutschen Grundschule. Sie ist vertraut mit den komplizierten Wegen, die wir hier alle gemeinsam gestalten - und natürlich auch mit der erzwungenen Psychiatrisierung von Grundschulkindern, die ohne eine entsprechende Diagnose in ihrer Krankenakte oft kein Stück Hilfe bekommen.


In Washington sei das anders, berichtete sie mir. Die Schule beschäftigt dort mehrere Therapeuten speziell für Teilleistungsstörung, die fest in das Kollegium integriert sind. Nur ein Teil des muttersprachlichen Unterrichts nehmen die Kinder dort in der Klassengemeinschaft wahr. Für mehrere Stunden pro Wochen werden sie in Kleingruppen unterrichtet, ohne jeglichen administrativen Aufwand. Eine psychiatrische Untersuchung ist für diese Hilfen nicht eingeplant. Und selbstverständlich wissen wir: Je früher und unkomplizierter betroffene Kinder die entsprechenden Hilfestellungen erhalten, desto unwahrscheinlich ist eine psychiatrische Diagnose im späteren Leben. 


Darum richtet sich meine Bitte an die politischen Entscheidungsträger: Bitte stellen Sie zertifizierte Lerntherapeutinnen und -therapeuten ein und schicken Sie sie an die Schulen - ohne Zugangsvoraussetzung in Form einer psychiatrischen Untersuchung, die darüber entscheidet, ob ein Kind psychisch "krank genug" ist, um Schutz und Förderung zu erhalten. Legasthenie und Dyskalkulie sind keine Krankheit, die es auszurotten gilt. Sie sind kein Fall für das Krankenhaus, für psychiatrische Praxen. Sondern sie sind Normvarianten, andere Formen der Begabungsverteilung. Je weniger der betroffenen Kinder einen Psychiater wie mich benötigen, desto besser ist es.


Dr. med. Oliver Dierssen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie




(1)  Marjolein Zee, Elise de Bree, Britt Hakvoort, Helma M.Y. Koomen,

Exploring relationships between teachers and students with diagnosed disabilities: A multi-informant approach,Journal of Applied Developmental Psychology, Volume 66, 2020,


(2)  Fuller-Thomson E, Carroll SZ, Yang W. Suicide Attempts Among Individuals With Specific Learning Disorders: An Underrecognized Issue. J Learn Disabil. 2018 May/Jun;51(3):283-292


Bild (c) Taylor Flowe / Unsplash

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