Wie Kinder mit Angst umgehen und welche Strategien zur Selbstberuhigung sie anwenden, lernen sie vor allem von ihren Eltern. Eine besonders herausfordernde Situation liegt vor, wenn Eltern selbst unter Angstsymptomen leiden und sich wechselseitige Kreisläufe aus Angst und gegenseitiger Beruhigung zwischen Eltern und Kindern ergeben.
Angst gehört zum Alltag vieler Kinder und Jugendlicher
“Wenn du dir nicht die Zähne putzt, muss die Zahnärztin eben bohren, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen!”
“Noch eine Fünf, und du kannst die Versetzung vergessen. Was soll noch aus dir werden?”
“Nach 20 Uhr fährst du auf keinen Fall mit dem Bus nach Hause, das ist viel zu gefährlich, wir müssen dich wohl leider wieder abholen.”
“Wenn es dir hier nicht gefällt, dann kannst du ja mal eine Woche in einer anderen Familie verbringen, dann merkst du schon, wie gut du es hier hast.”
Erwachsene sollen Kindern keine Angst machen. Genauer: Niemand soll Kindern Angst machen - weder Erwachsene noch andere Kinder. Und doch gehört dies zum Alltag vieler Kinder dazu: Angst vor schlechten Noten, vor Strafen und Schimpfen, Angst davor, die Eltern zu enttäuschen oder die Lehrkräfte wütend zu machen.
Natürlich ist Angst auch Teil des Lebens, auch Erwachsene sind ja nicht frei davon. Angst kann ein wertvolles Gefühl sein, das auch Schutz bieten kann (zum Beispiel im obigen Beispiel der nächtlichen Busfahrt). Viele Eltern sind gut beraten, hin und wieder auf ein mulmiges Gefühl im Bauch zu hören, wenn es darum geht, Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen. Sollte meine 15jährige Tochter bei einer Internetbekanntschaft in einer anderen Stadt übernachten dürfen? Sollte ich meinen Sohn nachts mit schon volljährigen Freunden im Auto nach Hause fahren lassen, obwohl bekannt ist, dass es dieser Freundeskreis mit Alkohol am Steuer nicht so genau nimmt? Würde ich mein Kind dazu drängen, bei einem Kind aus der Klasse zu übernachten, obwohl es sich vor dessen Eltern oder älteren Geschwistern fürchtet?
Bei kindlicher Angst sind Eltern in der Verantwortung
Unabhängig davon, ob ich mein Kind oder meine Jugendlichen mit meinen eigenen Sorgen oder Ängsten konfrontiere, oder ob mein Kind sich mit seinen kindlichen Ängsten an mich als Elternteil wendet - es bleibt Elternaufgabe, für Trost und Beruhigung zu sorgen und Sicherheit zu schaffen. Hier sind zunächst klare, verbindliche Regeln gefragt: “Ich fühle mich nicht wohl, wenn du das Wochenende in Hamburg bei Leuten verbringst, die ich nicht kenne. Deswegen möchte ich die andere Familie erst kennenlernen, zum Beispiel in einem Videochat. Danach kann ich entscheiden, ob du fahren kannst.”
Nicht nur die Verantwortung für Regeln und Entscheidungen bleibt bei den Eltern. Auch bei der Regulierung von Angst, bei Beruhigung und Spannungsabbau sind zunächst Eltern gefragt. Dies bedeutet, eigene Ängste kindgerecht zu formulieren und Kinder dabei nicht zu überfordern. Und zugleich darauf zu achten, Kinder nicht zu überfordern, etwa indem ihnen die Aufgabe zukommt, die belasteten Eltern aufzumuntern, zu trösten oder zu beruhigen.
Eine sehr typische Situation sind hierbei Konflikte um das kindliche Zähneputzen, bei dem nicht wenige Eltern schließlich aus ihrer Hilflosigkeit Google-Bilder von Karieszähnen präsentieren oder schmerzhafte Zahnarztbesuche schildern. Dies kann Kinder sehr ängstigen, was vielleicht die Zahnputzmotivation vorübergehend steigert, beim späteren Zahnarztbesuch vielleicht aber große und manchmal jahrelang andauernde Angstsymptome hervorrufen kann.
Wie Kinder Angst empfinden
Kindliche Angst unterscheidet sich von der oft reiferen Angst Erwachsener. Uns Erwachsenen fällt der Umgang mit Angst meist viel leichter:
Erwachsene haben schon zahlreiche Möglichkeiten kennengelernt, Angst abzuwägen und sich selbst zu beruhigen. Sie können sich an zahllose beängstigende Situationen erinnern, die sie bereits gemeistert haben.
Sie haben sehr oft erfahren, dass Angst auftritt und sich wieder legt.
Sie haben gelernt, dass das hinter großer Angst längst nicht immer eine ebenso große Gefährdung steht.
Sie haben Ressourcen, um sich abzulenken (hierzu gehören auch Alkohol und Medikamente).
Sie können differenzierter über ihre Gefühle Auskunft geben und kommen damit leichter an Trost und Beruhigung. Kinder fällt all dies viel schwerer. Sie sind ihrer Angst viel stärker ausgeliefert und viel mehr auf Trost angewiesen.
Viele Kinder erleben Angst verschwommener als Erwachsene. Sie können viel weniger genau sagen, was die Ursache ihrer Angst ist (was dazu führt, dass sie sich häufiger rechtfertigen müssen, weil sie Angst haben: “Davor brauchst du dich doch nicht zu fürchten! Du bist doch schon so groß!”) Kindliche Angst überfärbt Gedanken und Gefühle, umfasst meist auch starke körperliche Reaktion und kann Körper wie Psyche massiv überfordern. Gerade bei jüngeren Kindern verstärken Fantasie und magisches Denken die pochende Angst, hinzu kommen lebhafte Alpträume, imaginäre Freunde und der Glaube an Monster.
Wie Eltern Kinder beruhigen können
Deswegen brauchen Kinder feinfühlige Eltern, die Angstzeichen an ihrem Kind erkennen und diese Angst weder kleinreden oder wegdiskutieren. Kinder benötigen nicht in erster Linie logische, rationale Argumente zur Angstbewältigung, sondern vor allem das Gefühl, nicht allein zu sein. Viel hilfreicher als eine Bagatellisierung der Angst ist es, das Gefühl als Eltern an sich heranzulassen, es sozusagen in sich “aufzunehmen”: “Hey, ich sehe das. Du hast gerade große Angst. Komm, ich bin bei dir, ich nehm dich in den Arm und warte mit dir, bis die Angst wieder weniger geworden ist.”
Mir hilft hierbei die Vorstellung, dass ich als Elternteil die große, diffuse Angst meines Kindes in mir selbst in kleinere, gut verdauliche Portionen zerlege, die ich meinem Kind nach und nach anreichen kann: Dies können Rückmeldungen über das sein, was ich an meinem Kind wahrnehme: “Ich habe das gleich in deinem Gesicht gesehen, dass du Angst hast.” - “Du zitterst ja richtig!”. Viel Angst kann auch über eine körperliche Ebene reguliert werden, etwa in den Arm nehmen, sich gemeinsam zudecken oder sich eine Kissenmauer gegen die Angst bauen. Wichtig ist auch, Angst einfach anzuerkennen, ohne sie negativ zu bewerten: “Angst zu haben fühlt sich blöd an. Das weiß ich, weil ich auch manchmal Angst habe.”
Wenn Eltern von Angst überwältigt werden
Längst nicht allen Erwachsenen gelingt ein leichtfüßiger Umgang mit Angst. Dies wissen vor allem Menschen, für die Angstsymptome ein täglicher Begleiter sind - Menschen mit Angststörungen zu Beispiel, Zwangserkrankungen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen. Es ist eine große Herausforderung, die hiermit verbundenen Ängste nicht an Kinder “weiterzureichen”. Kinder übernehmen elterliche Einstellungen, Vorlieben und auch Ängste sehr schnell. Vielen Eltern in dieser Situation helfen Beratungen oder kindgerechte Bücher, um ihren Kindern zu erklären, warum Angst in der eigenen Familie manchmal eine zu große Rolle spielt.
Eine ganz besondere Herausforderung ist es, wenn Kinder immer wieder von den elterlichen Angstsymptomen “überflutet” werden. Eltern ist es dann kaum noch möglich, kindliche Angst zu regulieren, denn sie sind selbst voller Angst, die sich dann manchmal in Kindern wie Eltern frei ausbreiten kann, zu Panik führen kann bis hin zu Schock- und Lähmungszuständen. In diesen Situationen ist Hilfe von außen notwendig.
Eine besondere und manchmal auch kritische Situation entsteht, wenn sich schwer kontrollierbare Angst zunächst von Eltern auf Kinder überträgt - und Eltern dann in die Helferrolle wechseln, um die Angst (die sie in sich selbst selbst kaum bewältigen können) in ihrem Kind zu beruhigen. Für Eltern kann dies ein Weg sein, mit ihrer eigenen Angst klarzukommen: Sie beruhigen ihr Kind, und sich selbst gleich mit. Für Kinder ist die Anteilnahme an der elterlichen Angst allerdings eine massive Überforderung. Eine rote Linie ist zu ziehen, wenn Eltern sich selbst dabei immer wieder ertappen, aktiv mit Kindern über ihre eigenen Ängste oder gar hochbelastende Lebensereignisse zu sprechen (nach dem Motto: “In unserer Familie sprechen wir einfach offen über alles”) und die geängstigten Kinder dann anschließend wieder aus der elterlichen Helferrolle heraus zu beruhigen.
Solche Eltern-Kind-Kreisläufe von zunächst schwer kontrollierbarer Angstausbreitung und anschließender Beruhigung können eine kindliche Seele schwer in Mitleidenschaft ziehen und zu eigenständigen Angststörungen der Kinder führen. Schwerwiegende Ausprägungen solcher Angstkreisläufe finden sich z.B. in Familien, in denen Eltern (oder ältere Geschwister) Kindern z.B. Horrorfilme zeigen oder grausame Geschichten schildern (“damit du weißt, wie es in der Welt zugehen kann”) und anschließend die panischen Kinder vordergründig trösten. Die Erwachsenen sind somit zugleich Auslöser wie Beruhiger der Angst - und zugleich primäre Bindungs- und Bezugspersonen. In diesen Fällen ist die Grenze zu emotionalem Missbrauch überschritten, Hilfe von außen muss (meist von anderen Familienmitgliedern) dringend eingeholt werden.
Foto: (c) Tonik / unsplash.com
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