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"Nur Mut zu Konflikten!"

Autorenbild: Oliver DierssenOliver Dierssen

Aktualisiert: 29. Okt. 2024

Ein weiteres Schuljahr ist zu Ende. Die Anstrengungen der letzten Prüfungswochen verblassen allmählich. Die täglichen Anstrengungen dürfen ein wenig in den Hintergrund treten. Und auch die Konflikte um die Schule, um Hausaufgaben und Vokabeltests, die in vielen Familien zum Alltag gehören, bekommen eine Pause. Medien- und Zubettgehzeiten, pünktliches Aufstehen und die Frage, wie viele Tage Vorbereitung für eine Chemiearbeit notwendig sind - es darf erst einmal Ruhe einkehren. Eltern, Kinder und Jugendliche sammeln Kraft für den nächsten Anlauf nach den Sommerferien.


Diese Kraft wird notwendig sein. Nicht allein für die Bewältigung der neuen Herausforderungen, sondern auch für das Austragen der damit verbundenen Konflikte. Wie bringe ich als Elternteil meine Kinder oder Jugendliche dazu, etwas zu tun, das sie selbst nicht wollen (das Lernen für die Chemiearbeit), oder das ich während meiner Schulzeit selbst gern vermieden hätte (das benotete Physikreferat)? Wie kann ich es schaffen, dass mein Kind etwas tut, was es absolut nicht tun will? Wie sind diese Konflikte auszuhalten? Geht es überhaupt ohne Konflikte, ohne scharfe Worte, angedrohte Konsequenzen, geknallte Türen?


“Bindung ohne Burnout” versprechen derzeit erfolgreiche Elternratgeber. Ich halte dieses Ziel für unterstützenswert. Es ist gut, wenn ich mir als Elternteil die Messlatte nicht zu hoch hänge, auch einmal fünfe gerade sein lassen kann. Es ist eine elterliche Begabung, am eigenen Kind schulische Überforderungszeichen zu erkennen und ganz bewusst den Druck rauszulassen nach dem Motto: “Mir ist es wichtiger, dass du genügend Schlaf und Zeit für dein Tanztraining hast als eine gute Note in Erdkunde.” Sehr wichtig ist die Fähigkeit, als Elternteil auch einmal auf sich zu schauen, den eigenen Stress zu reduzieren, eine Tiefkühlpizza auf den Tisch zu stellen und einen außerplanmäßigen Filmabend mit Popcorn einzulegen, anstatt das pädagogisch wertvolle Brettspiel zu versuchen, bei dem es am Ende ohnehin wieder Streit gibt. 


Doch was, wenn die Konflikte trotzdem auftreten? Wenn auch gelegentliches Laissez-faire nicht zu Entspannung des Familienlebens führt, sondern die Konflikte zuverlässig wieder dann auftreten, wenn ich Anforderungen stelle? Wenn das auf Instagram gepriesene Familienbett dazu führt, dass ich jede Nacht mehrfach mit einem Fuß im Gesicht aufwache, bis ich das Bedürfnis habe zurückzutreten? Was wenn ich merke, dass Beziehung ohne Burnout nur klappt, solange ich nicht auf Regeln bestehe? Was, wenn mein Kind keineswegs in der Lage ist, den eigenen Handykonsum zu regulieren, sondern bereit ist, um jede Fortnite-Runde zu kämpfen? 


Es ist natürlich sinnvoll, als Eltern auf halbwegs gesundes Essen zu bestehen, während Jugendliche sich wochenlang von Frühstücksschokoflocken und Tiefkühlpizza ernähren könnten, wenn man sie ließe. Es ist mehr als richtig, Kinder bei der Regulierung ihres Medienkonsums zu unterstützen. Denn sie können es noch nicht selbst tun, während zu viel Handykonsum eindeutig schädlich für die kindliche Entwicklung ist. Es ist richtig, Kinder und Jugendliche trotz Unlust zu schulischer Mitarbeit zu motivieren, anstatt sie “auf die Nase fallen zu lassen.” 


In diesen Momenten werden Konflikte offen zu Tage treten. Es ist eine Frage von Stil und Temperament, ob es dann tatsächlich laut wird in der Familie oder einfach nur ungemütlich. Man könnte sagen: Das Unterschiedliche und Trennende steht in diesen Konfliktsituationen im Vordergrund. Jetzt offenbaren sich Seiten unserer Persönlichkeit, die wir im Familienleben sonst eher verbergen. Vielleicht zeige ich als Elternteil meine überpingelige Seite. Vielleicht schweigt mich mein Kind den ganzen Nachmittag lang wütend an. Vielleicht neigt meine Jugendliche plötzlich zu scharfer Ironie und beißendem Spott. Solches Konfliktverhalten ist kein Beweis dafür, dass wir im Familienleben versagen oder dass die Eltern-Kind-Beziehung nicht gelingt. Ganz im Gegenteil. Solche Momente helfen uns, einander vollständig zu sehen und auch diese “unbequemen Seiten” im anderen zu erkennen und zu akzeptieren. Denn auch die still brodelnde Wut ist Teil meines Kindes, selbst wenn ich es mir anders wünschen würde.


“Nur Mut zu Konflikten!”, möchte ich deswegen Eltern raten, die mit Sorge auf den Beginn des nächsten Schuljahres schauen. Reibungspunkte sind notwendig, sind unabdingbar wichtig für kindliche Entwickung, aber auch für uns Erwachsenen. Konflikte nicht dadurch gelöst, dass wir sie sportlich nehmen und als notwendigen Teil von Beziehungen erkennen. Doch es nimmt ihnen die Schärfe und Bedrohlichkeit, wenn klar ist: In Konflikten offenbaren wir einander die Eigenschaften, die wir sonst im Verborgenen halten. Dies geschieht, weil wir einander vertrauen. 


Dieser Text wurde erstmals im Juni 2024 in gekürzter Fassung im Redaktionsnetzwerk Deutschland veröffentlicht.


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